Stellungnahme des Queeren Netzwerkes NRW zum Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2025 anlässlich der öffentlichen Anhörung des Haushalts- und Finanzausschusses im NRW-Landtag am 31.10.2024
Wir geben diese Stellungnahme in einer gekürzten Fassung wieder.
Als landesweiter Dach- und Fachverband queerer Selbstorganisation mit über 90 Mitgliedsgruppen halten wir die im Haushaltsentwurf eingestellten Kürzungen im Politikfeld LSBTIQ* […] für fachlich falsch, kurzsichtig und unwirtschaftlich.
Betroffen ist die vollständige Streichung der intersektionalen Fachstelle #MehrAlsQueer, eine rund 40%-Kürzung bei der CSD-Förderung sowie eine Reduktion der Fördermittel bei der öffentlichkeitswirksamen Kampagne ANDERS & GLEICH um knapp 20%. Insgesamt ist die Titelgruppe 75 von Kürzungen von über 400.000€ betroffen. Auch die ersatzlose Einstellung der Landesseniorinnenarbeit für Lesben, Schwule und Trans sowie des Projekts LSBTIQinklusiv zeigen, dass die finanzpolitischen Anstrengungen zum Abbau von Queerfeindlichkeit im vorliegenden Haushaltsentwurf nicht ausreichen. Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre haben zu entgegengesetzten Bewegungen geführt: Auf der einen Seite hat die Akzeptanz von LSBTIQ spürbar zugenommen, so dass viele queere Menschen in NRW ihren Alltag heute selbstbestimmter und diskriminierungsärmer bestreiten können. Diese erfreuliche Entwicklung trifft auf die übergroße Mehrheit der Bevölkerung zu und hat in den letzten Jahren auch zunehmend Organisationen, Ämter und Regelstrukturen erfasst. Die daraus entstehenden Sensibilisierungs- und Fortbildungsbedarfe sind in NRW allerdings weiterhin massiv unterfinanziert.
Auf der anderen Seite nimmt in anderen Bevölkerungsgruppen die Ablehnung von LSBTIQ* massiv zu. Queeren Communities und Einzelpersonen schlägt ein zunehmend schamloser und radikalisierter Hass entgegen, der immer häufiger auch in Gewalt mündet. Es geht hier nicht mehr nur um Vorurteile, sondern um den Glauben, dass LSBTIQ* nicht gleichwertig sind und eine Abwertung und Benachteiligung legitim erscheint. Diese Entwicklung ist inakzeptabel und muss dringend gestoppt werden. Zentraler Gradmesser für den Zustand einer Demokratie bleibt der Umgang mit Minderheiten […]. Aus diesem Grund bedarf es dringend brückenbauender und sensibilisierender Maßnahmen, um Hass gegen LSBTIQ in NRW abzubauen und auf eine Deradikalisierung hinzuwirken. Hier ist der demokratische Staat in der Pflicht.
[…] Der vorliegende Haushaltsentwurf der Landesregierung spiegelt dies nicht nur nicht wider, sondern er unternimmt konkret entgegengesetzte Schritte.
Die komplette Streichung der Fachstelle #MehrAlsQueer oder die Schwächung insbesondere kleiner und ländlicher CSDs durch die Kürzung der CSD-Förderung sind das Gegenteil einer Investitionsoffensive in Demokratie, Vielfalt und Antidiskriminierung.
Dabei gilt, dass bereits der Status Quo unzureichend ist: Der Hass gegenüber LSBTIQ* führt bei vielen LSBTIQ* zu erhöhten Beratungsbedarfen, zu Unsicherheit und Angst. Die weiterhin nicht flächendeckend eingerichteten psychosozialen Beratungsstellen für LSBTIQ* melden eine signifikante Zunahme der Beratungsfälle und eine damit einhergehende ernsthafte Überlastung des qualifizierten Personals. Hier bedarf es dringend eines Ausbaus bestehender und eines Aufbaus neuer Beratungsstrukturen, insbesondere im ländlichen Raum.
Die Meldestellen zu unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmalen sind ein zielführendes, sachlich fundiertes und bei von Diskriminierung und Gewalt betroffenen Menschen akzeptiertes Instrument, um die in NRW konkret erfahrene Diskriminierung sichtbar und damit
analysierbar zu machen. […] Die Streichung der Fachstelle #MehrAlsQueer […] halten wir nicht nur fachlich für völlig falsch, sondern auch für in höchstem Maße unwirtschaftlich. Mit der Einstellung der Förderung werden die erst in den letzten Jahren aufgebauten Netzwerke von LSBTIQ* of Color wieder verschwinden […]
Die wegfallenden Präventions- und Empowerment-Maßnahmen bei #MehrAlsQueer werden zu mehr Diskriminierung, weniger Sichtbarkeit und mehr ohnmächtiger Hinnahme von Diskriminierung bei den Betroffen führen – mit den bekannten ganz konkreten Folgekosten von Diskriminierung durch Beratungsbedarfe, Krankheit und Gewalt. Dies betrifft dann die Budgets von Polizei, Justiz, Gesundheit und der Beratungsstellen. […]
Die Kürzung der CSD-Förderung um 40% schwächt insbesondere kleinere und gerade erst in den letzten Jahren entstandene CSD-Vereine im ländlichen Raum. Dabei sind gerade CSDs erfahrungsgemäß zentrale Impulsgeber für Städte und Kommunen, die neue Maßnahmen anregen und eine regionale Diskussion über die Akzeptanz von LSBTIQ* anstoßen können. […] Sichtbarkeit und Begegnung sind erwiesenermaßen wirksame Instrumente zum Abbau von Hass und Vorurteilen. Die im Haushaltsentwurf vorgesehene Kürzung widerspricht der notwendigen Investitionsoffensive in Demokratie, Vielfalt und Antidiskriminierung.
Auch die öffentlichkeitswirksame Kampagne ANDERS&GLEICH ist Beispiel für den seit Jahren steigenden Informationsbedarf der nordrhein-westfälischen Gesellschaft über queere Themen. 2024 wurden so viele Informationsmaterialien von ANDERS&GLEICH nachgefragt,
wie nie zuvor. Die Kampagne stellt damit einen wirksamen und bekannten Baustein für Bürgerinnen und Organisationen dar, um sich über Themen, Bedarfe und Sensibilisierungsstrategien selbstständig zu informieren. Damit leistet ANDERS&GLEICH einen Beitrag zur Deradikalisierung und Zivilcourage und ist damit ein gutes Beispiel für die Investitionsoffensive in Demokratie, Vielfalt und Antidiskriminierung. Die Kürzung der Kampagne ist vor diesem Hintergrund weder fachlich sinnvoll noch finanzpolitisch strategisch. Auch hier gilt: Ein Abbau von Prävention und Information führt immer zu mehr Diskriminierung und damit zu steigenden Ausgaben bei Intervention und Folgenbewältigung. Im Ergebnis widersprechen die Kürzungen den Bedarfen und Erfordernissen der Realität. Wir fordern, wie bereits in den vergangenen Jahren, eine Aufstockung der […] auf jährlich 15 Mio. EUR. […] Wir rufen ausdrücklich in Erinnerung, dass es bei der Forderung nach einer Aufstockung der Titelgruppe 75 auf 15 Mio. EUR keineswegs um Klientelpolitik geht. […] Politik für LSBTIQ stärkt daher nicht nur die Opfer von Diskriminierung, sondern ist eine gerade in diesen Zeiten notwendige Maßnahme zur Stärkung der Demokratie.
[…] Positiv hervorheben möchten wir ausdrücklich die im Haushaltsentwurf fortbestehende Dynamisierung des Kinder- und Jugendförderplans und die dortige Fortführung […] in der queere Jugendprojekte beantragt werden können.
Das im Koalitionsvertrag der Landesregierung formulierte Ziel eines Querschnittsthemas LSBTIQ* muss dagegen insgesamt konsequenter umgesetzt werden. Dass Menschen Diskriminierung und Queerfeindlichkeit erfahren, weil Fachkräfte im Krankenhaus, in Arztpraxen, in der Behindertenhilfe, im Sport, in Ämtern und Behörden, in Beratungsangeboten, in Schulen und Kindergärten usw. nicht ausreichend sensibilisiert sind, ist nicht akzeptabel. […] Aktuell ist der im Koalitionsvertrag formulierte Querschnitt nicht nur nicht umgesetzt, sondern wird weiter zurückgefahren.
Dies zeigt sich z.B. in der Landesseniorinnenarbeit für Lesben, Schwule und Trans […], die vom Gesundheitsministerium bereits im Verlauf des Jahres 2024 ersatzlos eingestellt wurde. Als Queeres Netzwerk NRW halten wir diesen Schritt ebenfalls für kurzsichtig und unwirtschaftlich, da bestehende Selbsthilfe- und Fach-Netzwerke durch fehlende Begleitung geschwächt werden und die Beratungsbedarfe von Seniorinnen- und Pflegeheimen in Bezug auf LSBTIQ im Alter plötzlich ins Leere laufen. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels bleibt die Landesregierung mit dem vorliegenden Haushaltsentwurf eine fundierte Antwort schuldig, wie die Gleichheit von LSBTIQ* auch im Alter gewährleistet und bestehende Diskriminierung abgebaut werden soll. Ebenfalls sichtbar wird der fehlende Querschnitt beim Thema Inklusion. Der Mehrfachdiskriminierung queerer Menschen mit Behinderung wird im Haushaltsentwurf der Landesregierung gar keine Förderung mehr zugewiesen. Die haushälterische Zuständigkeitsverweigerung der Landesregierung führt 2025 voraussichtlich dazu, dass die höchst vulnerable Gruppe der LSBTIQ* mit Behinderung keine zielgruppenspezifische Förderung zu Selbsthilfe und Sensibilisierung der Behindertenstrukturen mehr erhält. Da diese in den vergangenen Jahren bereits vorhanden war, wird auch hier eine 100% Kürzung umgesetzt, der wir vehement widersprechen. Auch im Bereich der Aidshilfe in NRW […] sind dramatische Einsparungen vorgesehen. Nach dem vorliegenden Entwurf des Landeshaushalts 2025 soll die Förderung der Maßnahmen zur Eindämmung von HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen um knapp 1,6 Mio. EUR, also um rund ein Drittel gekürzt werden. […] Davon betroffen wären nämlich nicht nur die 31 regionalen Aidshilfen und die erforderliche Koordination in der Geschäftsstelle der Aidshilfe NRW. Die Kürzung der fachbezogenen Pauschalen, die an die Kommunen im ganzen Land gezahlt werden, hätte auch unmittelbare Auswirkungen auf alle Träger, die im Youthwork (sexualpädagogische Fachkräfte für Aufklärung in Schulen) tätig sind.
Die eingeplante Kosteneinsparung wird zu erheblichen Folgekosten führen: Infektionen mit HIV und STI werden steigen, notwendige Behandlungen sind teuer sowie folgenschwere HIV-Spätdiagnosen werden durch verminderte Testangebote ansteigen. Gespart wird hier auf
Kosten der Ärmsten, der jüngeren Generation sowie der Steuerzahlerinnen der Zukunft. Insgesamt sehen wir im Haushaltsentwurf 2025 eine erhebliche Investitionslücke in Bezug auf gesellschaftliche Vielfalt und Antidiskriminierung. […] Die finanziellen Anstrengungen zum Abbau von Queerfeindlichkeit im Haushalt 2025 reichen daher nicht aus. Im Gegenteil treffen die geplanten Kürzungen die seit Jahren prekär finanzierten queeren Strukturen mit besonderer Wucht. Dabei werden die Einsparungen durch die Kürzungen erfahrungsgemäß nur in jene Budgets von Polizei, Justiz und Gesundheit verschoben, die durch die abgeschafften Präventions- und Sensibilisierungsmaßnahmen wieder mehr Fälle, Beratung und Patient*innen bekommen werden. Eine wirkliche Einsparung findet nur kurzfristig statt.
Die Verwirklichung der unantastbaren Würde des Menschen ist eine fortwährende Aufgabe der Demokratie – das muss sich im Haushalt des Landes NRW viel stärker widerspiegeln. Die Akzeptanzarbeit für queere Menschen bleibt absehbar ein zentrales und aktuelles Aufgabenfeld jeder demokratischen Gesellschaft.
Queeres Netzwerk NRW
Lindenstraße 20
50674 Köln
Benjamin Kinkel, Geschäftsführung
Dieser Link führt zur ungekürzten Stellungnahme des Queeren Netzwerkes NRW (PDF-Datei)